Mehr Investitionen in die Patientenkompetenz!

SP-Nationalrat Jean-François Steiert, 55, vertritt seit kurzem die Politik im fmc-Vorstand. Als Vizepräsident des Dachverbandes Schweizerischer Patientenstellen setzt er sich ausserdem für die Stärkung der Patientenperspektive ein. Und als Freiburger spricht er darüber, wie sich die Integrierte Versorgung in der Deutsch- und Westschweiz gegenseitig inspirieren könnten – und weshalb sich Investitionen in die Patientenkompetenz lohnen. 

Herr Steiert, als SP-Nationalrat bringen Sie eine andere politische Sicht in den fmc-Vorstand ein als Ihr Vorgänger, FDP-Nationalrat Ignazio Cassis. Was sind die grössten Unterschiede zwischen linker und bürgerlicher Gesundheitspolitik?

Der Begriff «bürgerliche Politik» ist in vielen Bereichen überholt – auch in der Gesundheitspolitik. Es gibt wechselnde Mehrheiten in verschiedenen Zusammensetzungen. Dabei steht die Parteizugehörigkeit oft weniger im Vordergrund als die Interessenvertretung, sei es der Versicherer, Pharmaindustrie und Leistungserbringer – oder leider nur in geringerem Mass der Patienten. Allgemein ist festzustellen, dass sich von den Bundesratsparteien die SVP – oft mit Unterstützung der FDP – für einen Abbau der KVG-Vergütungen und damit der Solidarität im Gesundheitswesen einsetzt, ausserdem für den Ersatz von staatlichen durch private Regelwerke. Die Hauptanliegen der SP sind der Zugang aller PatientInnen zu guten Leistungen, mehr Patientenzentrierung, transparente und demokratisch abgestützte Regulierungen sowie die gerechte Finanzierung. Die CVP schliesslich unterstützt je nach Thema die eine oder die andere Seite.

Bei allen Unterschieden sind gerade in der Gesundheitspolitik gemeinsame Positionen gefragt: Wo sehen Sie das grösste Potenzial dafür? 

Gemeinsame Positionen über alle politischen Sensibilitäten hinweg sind sehr selten. Chancen für solide Mehrheiten sehe ich im kommenden Jahr bei der Qualität, wo die nationalrätliche Kommission – im Gegensatz zum Ständerat – ohne Gegenstimme eine entsprechende Gesetzesanpassung verlangte. Ausserdem bei Kosten-Nutzen-Fragen und der Steuerung in der ambulanten Medizin. Schliesslich bei der Stärkung der individuellen und kollektiven Patientenrechte, was letztlich im Interesse aller Beteiligten liegt.

In der Gesundheitspolitik sind die Unterschiede zwischen Deutsch- und Westschweiz augenfällig: eher wettbewerbsorientiert in der Deutschschweiz, eher staatlich orientiert in der Westschweiz. Was sind die Gründe dafür? 

Die soziale Gerechtigkeit und die Verteilung der gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten zwischen dem Einzelnen und dem Staat spielen in lateinischen Kulturen ganz allgemein eine stärkere Rolle als in der germanischen und angelsächsischen – was nicht nur für die Gesundheitspolitik gilt. Der ideologische Krieg, den die harte Deutschschweizer Rechte heute gegen jede staatliche Regulierung führt – wie jüngst im Ständerat beim Nichteintreten auf das Qualitätsgesetz –, macht aus diesen Unterschieden wenig konstruktive Spannungen. Besonders irrational wirkt dies, wenn gleichzeitig intransparente und komplexe Regulierungswerke auf privatrechtlicher Grundlage – und damit ohne demokratische Kontrolle – in Kauf genommen oder sogar gefördert werden. Gerade in der Gesundheitspolitik wünsche ich mir mehr Austausch zwischen den Sprachregionen, damit wir sachlich statt ideologisch über die Kosten und Nutzen von (De-)Regulierungen und Wettbewerb sprechen können.

Die Integrierte Versorgung, allen voran die Ärztenetze, hat sich lange Jahre vor allen in der Deutschschweiz verbreitet. Nun haben sich in der Westschweiz zahlreiche moderne Formen der Integration etabliert: das Cité Générations in Genf, die Réseaux Santé im Kanton Waadt, das Programme cantonal Diabète in der Waadt. Hat die Westschweiz die Deutschschweiz bei der Integrierten Versorgung überholt? 

Im Gesundheitswesen – wie in vielen anderen Bereichen – haben individualistische Einstellungen, die in lateinischen Kulturen stärker verbreitet sind, horizontale Kooperationsformen wie Genossenschaften und eben Ärzte- oder Gesundheitsnetze lange Zeit gehemmt. Handkehrum haben es die stärkeren staatlichen Steuerungsinstrumente ermöglicht, erfolgreiche Zusammenarbeitsmodelle aus anderen Bereichen mit mehr Mitteln und stärkeren Anreizen schneller zu fördern und zu verbreiten.

Sie sind Freiburger und in beiden Sprachregionen aktiv: Was kann die Deutschschweiz von der Westschweiz lernen in Sachen Integration? Und umgekehrt?

Der Erfolg politischer Strategien ist meist kulturabhängig. Erfolgreiche Rezepte in der einen Kultur sind deshalb nur selten in einer anderen reproduzierbar. Die potentielle Stärke der Schweiz liegt in der Möglichkeit des ständigen Vergleichs und der gegenseitigen Bereicherung – was aber einen sachlichen Austausch voraussetzt, den sicher auch das fmc fördern kann. Wir nutzen dieses Potential in der Schweiz zurzeit viel zu wenig, und der rückwärtsgewandte Kampf gegen den Zweitsprachenunterricht trägt nicht zur Öffnung bei. Inspirationsquellen für die Westschweiz sind zum Beispiel die Diversität der Ansätze, der weiter fortgeschrittene Einbezug von PatientInnen oder auch berufsübergreifende Modelle. Die Deutschschweiz wiederum könnte von den messbaren Qualitäts- und Effizienzfortschritten profitieren, die dank staatlicher Förderprogramme oder -massnahmen erreicht werden.

Die Patienten der Zukunft sind chronisch krank, hochaltrig und häufig dement. Dadurch haben sie neben medizinisch-pflegerischen Bedürfnissen meist auch soziale und fallweise juristische – was die Komplexität und den Koordinationsbedarf weiter steigen lässt. Was heisst das für die Integrierte Versorgung?

Sie wird ihre berufsübergreifende Dimension weiter stärken und in Zeiten, in denen die ehemals klaren Grenzen zwischen stationärem und ambulanten Bereich zunehmend verschwimmen, vermehrt strukturübergreifend wirken müssen. Das bedingt, dass integrierte Netze eine ausreichende Grösse haben. Ausserdem ist zu gewährleisten, dass jede Leistung – ob KVG-pflichtig oder nicht – von jener Personen erbracht wird, die am besten dafür qualifiziert ist und kosteneffizient arbeitet. Dafür muss die Finanzierung dieser Leistung kohärent sein. Was zum Beispiel voraussetzt, dass die Finanzierungsanteile des Staates und der Versicherten zwischen stationärem und ambulantem Sektor harmonisiert werden. Andernfalls könnte die Integrierte Versorgung massiv gehemmt oder sogar zurückgeworfen werden.

Sie sind auch Vizepräsident des Dachverbandes Schweizerischer Patientenstellen: Eine stärkere Patientenorientierung wird als Schlüssel zu mehr und besserer Integration gesehen. Was tun die Patientenstellen dafür?

Unsere Mittel sind äusserst begrenzt, weshalb wir unsere Arbeit auf die individuellen Beratungen konzentrieren müssen. Gleichzeitig bringen wir in immer mehr Prozessen die Sicht der Patientinnen ein und tragen damit zur Qualität und zur Glaubwürdigkeit solcher Prozesse bei – was gerade in unserem direktdemokratischen System ein wichtiger Erfolgsfaktor ist. Deshalb überlegen sich vermehrt auch Leistungserbringer und Versicherer, Mittel in kollektive und neutrale Patientenkompetenzen zu investieren. Solche Investitionen sind eine wichtige Voraussetzung für die individuelle Stärkung der Patientin oder des Patienten in integrierten Versorgungsnetzen.

Das elektronische Patientendossier hat grosses Potenzial, um die Rolle der Patienten und Patientinnen zu stärken – nur ist die Anwendung freiwillig: Wer muss welche Anreize setzen, damit sich das Dossier rasch verbreitet in der Schweiz? 

Die Mehrheit des Parlaments hat die doppelte Freiwilligkeit nicht aus tiefer Überzeugung beschlossen, sondern wegen der politischen Machbarkeit. Das Problem: Bei Leistungserbringern und PatientInnen herrscht oft mehr Misstrauen, dass grosse Datensammlungen nicht nur zum kollektiven Wohl genutzt werden, als die Hoffnung, dass die Daten primär zur Verbesserung der Qualität eingesetzt werden. Deshalb braucht es von Bund und Kantonen – recht günstige – Investitionen in die rasche Verbreitung des elektronischen Patientendossiers. Sodann vertrauensbildende Massnahmen für ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis und die uneingeschränkte Datenhoheit der PatientInnen.

Interview: Urs Zanoni

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