Und weshalb macht das ein Arzt?

Am 25. Februar verabschiedete der Bundesrat die Botschaft des Departements für Bildung, Forschung und Innovation, in der 100 Millionen Franken für die Ausbildung zusätzlicher Ärzte enthalten sind. Auf der anderen Seite sollen Fachpersonen wie Pflegeexpertinnen und Apotheker vermehrt Leistungen von Ärzten übernehmen. Prof. Thomas Rosemann, Leiter des Instituts für Hausarztmedizin an der Universität Zürich, über Widersprüche, Vorbehalte und Überforderungen in der Grundversorgung.

Herr Rosemann, einerseits 100 Millionen Franken für zusätzliche Ärzten, anderseits neue Aufgabenteilungen zur Entlastung von Ärzten. Plant der Bundesrat an den künftigen Bedürfnissen des Versorgungssystems vorbei?

Die Nachfrage nach medizinischen Leistungen steigt weiter, bedingt vor allem durch die Zunahme an älteren, chronisch kranken, oft multimorbiden und dementen Menschen. Hinzu kommt der demografische Wandel in der Ärzteschaft: Jüngere Ärztinnen und Ärzte wollen nicht 60 bis 80 Stunden in einer Einzelpraxis arbeiten, sondern Teilzeit in einer Gruppenpraxis sowie Familie und Beruf vereinbaren. In der Konsequenz braucht es künftig zwei Ärzte um einen bisherigen zu ersetzen. Wünschenswert ist ausserdem, dass mit diesen 100 Millionen mehr Hausärzte ausgebildet werden und nicht mehr plastische Chirurgen.

Sie sagen, die Nachfrage nach medizinischen Leistungen steige weiter. Dafür braucht es aber nicht in jedem Fall einen Arzt oder eine Ärztin?

Das stimmt. Wir haben in Europa, speziell in den deutschsprachigen Ländern, ein extrem arztzentriertes System. Hier erbringen Ärzte Leistungen, bei denen man sich in anderen Ländern fragt, weshalb das ein Arzt macht.

Konkret?

Das sind zum Beispiel routinemässige Untersuchungen bei chronisch kranken Menschen wie das Messen des Blutzuckers oder Fusskontrollen. In anderen Ländern geht die Substitution aber viel weiter und umfasst auch spezialisierte Leistungen. In den USA werden Koloskopien und Ultraschalluntersuchungen des Herzens oder der Gefässe häufig von speziell qualifizierten Pflegenden durchgeführt.

Mit befriedigenden Resultaten?

Mit sehr guten Resultaten. Weil diese Personen über Jahre hinweg nichts anderes machen. Die Interpretation der Befunde nehmen dann selbstverständlich Ärzte vor. Ähnlich sollte es bei uns in der Betreuung von chronisch kranken Menschen sein: Nicht-ärztliche Fachpersonen nehmen die Standard-Prozeduren vor und ziehen den Arzt oder die Ärztin erst bei, wenn sich der Gesundheitszustand verschlechtert.

Chronisch kranke Menschen, die häufig multimorbid und fallweise dement sind, haben neben medizinisch-pflegerischen Bedürfnissen auch soziale und sogar juristische – Stichwort Erwachsenenschutz. Wie lässt sich diese Komplexität organisieren?

In solchen Fällen sind Ärzte naturgemäss überfordert. Ich habe das im Kanton Zürich erlebt bei der kantonalen Demenz-Strategie: Der Hausarzt muss wissen, an wen er sich wenden oder an wen er Angehörige verweisen kann, wenn es um soziale Unterstützung, Ergänzungsleistungen oder eine Beistandschaft geht. Dazu braucht es eine gute Vernetzung mit den kommunalen Diensten. Auch hier können Fachpersonen aus der Pflege und dem Sozialbereich wichtige Unterstützung bieten.

Sie plädieren für das Medical Home als primäre und kontinuierliche Anlaufstelle in der Grundversorgung. Werden dort künftig auch Sozialarbeiter und Juristen angestellt sein?

Sie brauchen nicht angestellt zu sein. Doch das Medical Home sollte diese Leistungen anbieten beziehungsweise vermitteln.

In einem Interview mit der Berner Zeitung bringt Michael Hengartner, Rektor der Universität Zürich, die «Schaffung eines neuen Berufes ähnlich des Nurse Practitioner in den USA» ins Spiel, «der einfachere Konsultationen selber erledigt und nur schwierigere Fälle an den Arzt verweist». Schmerzt das den Arzt in Ihnen?

Keinesfalls. Ich habe bei Kaiser Permanente, dem grössten Gesundheitsdienstleister in den USA, selber erlebt, wie hilfreich Nurse Practitioners sind. In einer Notfallpraxis zum Beispiel empfängt einen die Nurse Practitioner und nicht der Arzt. Etwa zwei Drittel der Patienten werden durch sie diagnostiziert. Das ist für beide ein Gewinn: Die Nurse Practitioner macht mehr als Pflege, der Arzt beschäftigt sich vor allem mit komplexeren Fällen.

Auf solche Modelle angesprochen, sagen Ärzte jeweils, sie bräuchten bei jedem Patienten den persönlichen Kontakt, weil sie dadurch zusätzliche Informationen erhielten. Ein Vorwand?

Ja, zum Teil. Selbstverständlich kann die erlebte Anamnese hilfreich sein, doch der Erkenntnisgewinn wird tendenziell überschätzt. Zudem ist ja auch eine Arbeitsteilung denkbar: Von einer 15-minütigen Konsultation übernimmt die MPA oder Pflegefachperson 10 Minuten und bereitet alles für den Arzt strukturiert vor. Dieser beansprucht die restlichen 5 Minuten und kann im persönlichen Kontakt einschätzen, ob weitere Massnahmen erforderlich sind.

Und die Patienten würden das akzeptieren?

In aller Regel schon, wie zahlreiche Untersuchungen zeigen.

Mit dem elektronischen Patientendossier erhalten die Patienten die Möglichkeiten, sich stärker in die eigene Behandlung und Betreuung einzubringen. Wollen sie das?

Teils, teils. Aber man muss diese Optionen zur Verfügung stellen. Und akzeptieren, dass viele chronisch kranke Menschen die eigentlichen Spezialisten für ihre Erkrankung sind.

Das elektronische Patientendossier wird Transparenz schaffen und damit so etwas wie soziale Kontrolle. Wird das zu einer bedachteren, massvollen Medizin führen?

Tatsächlich wird das elektronische Patientendossier fragwürdige diagnostische oder therapeutische Massnahmen schamlos offen legen. Deshalb werden die Vorbehalte vieler Ärzte bleiben. Doch sich dagegen zu wehren, macht auf lange Sicht keinen Sinn. Denn die Patienten haben Anspruch auf Transparenz. Und diese soll vor allem zu besserer Qualität und mehr Sicherheit führen.

Alles in allem: Brauchen wir in 20 Jahren, gemessen in Stellenprozenten, mehr oder weniger (haus-) ärztliche Kapazitäten als heute?

Mehr. Denn die Neuverteilung der Aufgaben, über die wir unter dem Titel Skillmix sprechen, steht erst am Anfang. Und die Vorbehalte sind gross. Spezialisten glauben bis auf weiteres kaum daran, dass eine Koloskopie auch von einer Nurse Practitioner durchgeführt werden kann. Zudem ist die Spitze der Leistungsausweitung noch nicht erreicht.

Zur Person

Thomas Rosemann studierte Medizin in München. Seine Forschungstätigkeit startete er an der Universität Heidelberg (wo er 2007 habilitierte) und führte ihn nach Holland (PhD-Studium in Medical Sciences an der Radboud Universität Nijmegen) sowie in die USA (Kaiser Permanente und Stanford University). 2008 wurde er auf den Lehrstuhl für Hausarztmedizin an der Universität Zürich berufen.

Interview: Urs Zanoni

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