Wir sind interessiert, die ganze Prozesskette zu überblicken
Herr Guggisberg, die Spital STS AG eröffnet im Frühjahr 2017 am Thuner Bahnhofplatz das «Medizinische Zentrum Bahnhof» und folgt damit dem Trend, Arztpraxen zu gründen oder zu kaufen. Dient das vor allem der Patientenbeschaffung fürs Spital oder der Integrierten Versorgung?
Bruno Guggisberg: In erster Linie geht es um die Entlastung des Spital-Notfalls. Schon heute leisten Hausärzte der Region ihren Notfalldienst bei uns, indem sie eine Art Hausarztpraxis im Spital betreiben. Hier untersuchen und behandeln sie Menschen mit nicht lebensbedrohlichen Beschwerden oder Verletzungen. Selbstverständlich kann sich aus einem solchen Notfall ein stationärer Aufenthalt ergeben – das ist heute schon so. Andererseits rechnen sich ambulante Leistungen nicht fürs Spital. Wir werden mit dem Medizinischen Zentrum dazu beitragen, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
…und nicht die Integration der Versorgung fördern?
Da die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten heute schon sehr eng ist, ist auch die Integration weit fortgeschritten.
Wichtiger, da oft sehr kostenintensiv, ist ohnehin die richtige Nachbetreuung. Wie organisiert das Spital Thun das Austrittsmanagement?
Im Spital gilt heute der Grundsatz: Die Planung des Austritts beginnt mit dem Eintritt des Patienten – auch bei uns. Gutes Austrittsmanagement senkt die Aufenthaltsdauer. Folglich werden Akutbetten früher frei, und wir können rascher wieder neue Patienten aufnehmen. Wir haben bei uns ein Coaching-System, das mein Vorgänger eingeführt hat: Die Coaches beschäftigen sich ab dem Eintrittstag eines Patienten mit der Austrittsplanung. Damit entlasten sie auch die Pflege, die sich voll und ganz auf ihre Kerntätigkeit konzentrieren kann.
Wer zahlt diese Coaches?
Diese zahlen sich im Prinzip selber. Auch dank ihnen liegt unsere durchschnittliche Aufenthaltsdauer einen Tag unter dem schweizerischen Mittel. Anders ausgedrückt: Die Coaches – in Zweisimmen sind es spezialisierte Pflegefachpersonen – finanzieren sich voll und ganz aus der Fallpauschale. Ihr Knowhow, das auch Kenntnisse im Sozialversicherungsrecht umfasst, gewährleistet den Patientinnen und Patienten die grösstmögliche Lebensqualität, Sicherheit und Zufriedenheit nach dem Austritt.
Die Spital STS AG verfügt mit der Alterswohnen STS AG über eine Tochtergesellschaft, die verschiedene Wohnformen für pflege- und betreuungsbedürftige Menschen anbietet. Welchen Nutzen versprechen Sie sich davon?
Als Leistungserbringer, der sich schon lange mit der vertikalen Integration beschäftigte, war es folgerichtig, die Prozesskette um die Langzeitpflege zu ergänzen. Zumal es reichlich Synergien gibt, zum Beispiel bei der Ausbildung und Rekrutierung von Pflegepersonal, der Logistik, Informatik und Administration. Zudem gewährleisten die Spitalärzte am Standort Zweisimmen zusammen mit den Hausärzten vor Ort den heimärztlichen Dienst im Alterswohnen.
Werden Sie, um die ganze Langzeitpflege abzudecken, auch noch Reha- und Spitex-Organisationen übernehmen?
Wir sind grundsätzlich interessiert, die ganze Prozesskette überblicken zu können. Doch jeder Bereich ausserhalb des Akutbereichs hat seine eigenen «Gesetze», bis hin zu eigenen Tarifsystemen. Deshalb überlegen wir uns in jedem Fall sehr genau, ob und wie wir einen zusätzlichen Bereich integrieren, damit das Ganze führbar bleibt: Gründen wir eine eigene Gesellschaft? Kaufen wir einen bestehenden Anbieter? Gibt es einen optimalen Kooperationspartner? Bei der Reha zum Beispiel profitieren wir davon, dass unser Chefarzt Medizin, Prof. Dr. med. Armin Stucki, von 2007 bis 2013 Chefarzt im Berner Reha Zentrum Heiligenschwendi war. Da lag eine Kooperation auf der Hand.
Wenn man die Entwicklung Ihres Unternehmens betrachtet, drängt sich die Frage auf: Lösen die Spitäler die Ärztenetze als Treiber der Integrierten Versorgung ab?
Im Raum Thun ist es ganz klar ein Miteinander: Das Ärztenetzwerk Igomed, das soeben sein 20-Jahr-Jubiläum feierte, hat auch Spitalärzte als Mitglieder. Und das Spital ist im Vorstand vertreten. Umgekehrt leisten Igomed-Ärzte im Rahmen des Hausarztnotfalls Region Thun ihre Dienste in der Spitalpraxis. Das heisst: Wir brauchen sie, sie brauchen uns. Doch ganz generell sollte das Gemeinsame betont werden: Ärztenetze haben die grosse Chance, die Grundversorgung sowie den erleichterten Zugang zu Spezialisten und Spitälern zu gewährleisten. Spitäler wiederum möchten den Patienten Lösungen «aus einer Hand» bieten, zum Beispiel durch die Kooperation mit einem Ärztenetz.
Sie haben vor ein paar Jahren das Modellvorhaben Medizinische Grundversorgung Obersimmental-Saanenland mitgestaltet. Solche regional ausgerichteten Modelle entwickeln sich mehr und mehr in der Schweiz. Sind sie das Mittel der Wahl, um Regionalspitälern das Überleben zu sichern?
Solche regionalen Modelle sind zwar richtig, aber sehr anspruchsvoll, weil viele unterschiedliche Interessen und Kulturen zusammenkommen. Dem Verein Medizinische Grundversorgung Simmental-Saanenland, den wir mit anderen Leistungserbringern der Region sowie Gemeinden gründeten, ist es noch nicht gelungen, die Hausarztmedizin nachhaltig zu sichern. Gemäss Branchenmeinung benötigt ein Spital eine kritische Grösse von 4000 bis 5000 Fällen pro Jahr. Dafür braucht es aber gewisse Spezialitäten, die über die reine Grundversorgung hinausgehen. Mit ambulanten Angeboten oder Leistungen in der Langzeitpflege lässt sich das nicht kompensieren. Zumal es bereits eine grosse Herausforderung ist, die Grundversorgung zu gewährleisten, allein schon wegen des hoch defizitären Notfalls und der Vorhalteleistungen. Ausserdem ist es nicht von der Hand zu weisen, dass durch die heutige Mobilität die Treue zum Regionalspital abnimmt. Mit der Folge, dass man elektive Eingriffe häufig am Arbeits- und nicht mehr am Wohnort durchführen lässt. So wie man den Dorfladen schätzt, aber doch lieber ins Einkaufszentrum fährt.
Sie setzen auf vertikale Integration. Womit Sie sich mit Fallpauschalen, Tarmed und der neuen Pflegefinanzierung herumschlagen müssen. Es wäre doch sinnvoller, zum Beispiel für chronisch kranke Patienten, sektorenübergreifende Pauschalen zu vereinbaren. Am besten mit Qualitätsindikatoren unterlegt, damit die Spital STS AG Mehreinnahmen hat, wenn sie die Kriterien erfüllt.
Solche Pauschalen wären in der Tat wünschbar, sind aber noch sehr weit entfernt. In einem ersten Schritt müsste das Problem der ungleichen Tarifsysteme im stationären (SwissDRG) und ambulanten Bereich (TARMED) gelöst werden. Sie führen dazu, dass Spitäler für Behandlungen derselben Krankheit unterschiedlich bezahlt werden und die Kosten bei den Versicherern unterschiedlich hoch sind. Jeder Schritt hin zur einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen ist deshalb zu begrüssen. Ebenso wäre es zu begrüssen, wenn ein solches System mit Qualitätsindikatoren unterlegt würde. Nur sollte man nicht zu viel aufs Mal wollen. Zudem bringt es nichts, immer mehr zu messen. Vielmehr sollten wir versuchen, aus dem, das wir heute schon messen, die richtigen Schlüsse zu ziehen und Massnahmen abzuleiten – das ist anspruchsvoll genug.
Eine Frage noch zur Rolle des Kantons bei der Integrierten Versorgung: Würden Sie sich dagegen wehren, wenn Leistungsaufträge für Spitäler mit Auflagen zur Integration von vorgelagerten und/oder nachgelagerten Leistungserbringern ergänzt wären?
Nein, das wäre schlau. Damit würde der Kanton signalisieren, dass er eine Gesamtoptik einnimmt, dass er aus Schnittstellen Nahtstellen machen möchte. Eines aber müsste klar sein: Wenn die Auflagen Kosten verursachen, dann wollen wir das bezahlt haben.
Interview: Urs Zanoni